Virtual Reality auf der re:publica 2017

art / main / tech

Ich bin gesprungen. Von der Planke. Glaube, es war New York, auf jeden Fall nen Wolkenkratzer. Meine Hände sind immer noch ein wenig zitterig. In dem Moment, bevor ich meinen Fuß von der eh schon wackeligen Holzplanke in die Luft setzte, haben auch die Knie gezittert. Das “Runterfallen” selbst war eher unspektakulär, aber dieser Moment vorher… !

Das Setting ist einfach: Auf einem Messestand liegt ein Holzbrett, vielleicht 6 cm hoch. Du wirst eingekleidet mit VR-Brille, Kopfhörern und einem Controller, mit dem du den Fahrstuhl in Gang setzt. Wenige Sekunden später öffnet sich die Fahrstuhltür und du stehst in sehr luftiger Höhe vor einem schmalen Brett. Das Wetter ist super, Vögelchen fliegen nah an dir vorbei, ein Helikopter ist vielleicht sogar etwas zu nah. Der erste Schritt ist wackelig und die zwei Meter bis ans Ende des Brettes eine Herausforderung. Du tastest dich langsam vorwärts – besser nicht nach unten schauen… Und dann sagt der (unsichtbare) Mensch, der dir das Headset gab: “Wenn du springen willst, nach links.”

Erst beim zweiten Versuch habe ich es geschafft, zu springen. Dabei sieht die Grafik eigentlich gar nicht so echt aus – eher nach einem 5-10 Jahre alten Konsolenspiel. Es gibt keinen Wind, der Sound fühlt sich nicht räumlich an – und natürlich weiß ich: Es ist nicht echt. Trotzdem bin ich nicht die Einzige, die vorher das Headset absetzt.

Das ist wohl die “Immersion”, von der alle sprechen. Eine Erfahrung, die sich real anfühlt, überzeugend. Das fängt damit an, dass unser gesamtes Sichtfeld genutzt wird. Kennt ihr diesen Effekt einer Sonnenbrille, die an den Rändern Licht durchlässt (also im Wesentlichen alle Brillen bis auf die Insektenaugen-Variante)?  Ich komme damit nicht klar, das macht irgendwie meine rp17Realitätswahrnehmung kaputt. Genau das machen VR-Brillen NICHT – und eine leicht pixelige Realität scheint mein Hirn viel weniger zu stören als eine mit zwei Helligkeitsstufen.

Ich habe nahezu jeden VR-Stand auf der re:publica (und das waren einige, ist schließlich ne “Digitalkonferenz”) sowie die dazu passenden Vorträge besucht. Schon vorher blieb ich auf Veranstaltungen gern bei den VR-Ständen stehen, aber diesmal war ich wirklich drin.

Warum fasziniert mich die virtuelle Realität so? 

Einerseits fand ich die Ästhetik von Computerspielen schon immer ansprechend, ich denke da beispielsweise an die liebevoll gestalteten Retro-Luftschiffe aus Bioshock Infinite oder die detailreiche Nachbildung des Florenz der Renaissance in Assassins Creed. Wie in besonders guten Büchern BIN ich die Hauptfigur. Was in Texten durch emotionale Identifikation passiert, generieren Spiele (auch) durch die Kontrolle über den Verlauf der Geschichte. Ich erfahre die Konsequenzen meiner Entscheidungen.

Trotzdem bin ich keine Gamerin. Warum?

Die Bedienung ist mir oft schwergefallen – nach vorne laufen, abbiegen, springen und jetzt schnell Werkzeug XY auspacken und… nix. Spätestens dann bin ich Tod. Zu langsam. Falsche Taste gedrückt. In den Spielen, die in interessant fand, bin ich selten über diesen Punkt hinausgekommen. Mir fehlen sowohl Talent als auch Geduld zum Üben. Zudem habe ich wenig Spaß an Kämpfen, Schießen etc. Als Jugendliche spielte ich eine Zeit lang SimCity 2000 und The Sims – aber die hatten optisch eher so mittelviel und vom Storytelling her noch weniger zu bieten.

Sobald ich heute VR Headsets irgendwo rumliegen sehe, taucht die alte Faszination wieder auf: Wie sehen Welt und Charaktere aus? Kann ich vielleicht Fliegen? Wie ist das Interaktionskonzept? Sofern es einen Controller dazu gibt, kann man damit in der Regel nur 2-4 Aktionen ausführen – das bekomme ich geparst. Außerdem muss ich meist auf nix schießen und niemand ist irritiert, wenn man nur rumsteht und die Pixel anschaut, die so tun, als wären sie dreidimensional.

Zurück zur re:publica – hier konnte ich einige „Realitäten“ ausprobieren.

VR Dokumentationen

Ein Projekt vom Guardian steckt mich in eine klassische amerikanische Einzelzelle, in der Inhaftierte dauerhaft verweilen mussten. Ein WDR-Projekt zeigt ein noch dunkleres Kapitel: Inside Auschwitz führt uns durch das Konzentrationslager. Ich kann es nur recht kurz probieren und bin hinterher nicht ganz sicher, ob VR schon ein gutes Kommunikationsmittel dafür ist. Das spielerische Herantasten an die Technik (man kann fliegen) passt nicht zu der Ernsthaftigkeit, mit der ich dem Thema begegnen möchte. Andererseits wirken die Worte einer Betroffenen in der menschenleeren Rekonstruktion sehr intensiv…

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://www.youtube.com/watch?v=QwC5d75iTcA

Gerade solche dokumentarischen Projekte müssen sich hier vielen moralischen Fragen stellen – zum Beispiel, ob man damit nicht Authentizität fälscht, falsche Erinnerung in Augenzeugen hervor ruft oder ob virtuelle Realität selbst zur Folter eingesetzt werden kann. Gleichzeitig scheint VR in der Lage zu sein, durch das Eintauchen mehr Empathie für Betroffene hervorzurufen.

VR Theater

Einen ganz anderen Ansatz verfolgen die beiden Performer von Bombina Bombast. In ihrem Vortrag beschreiben sie den Anfang der Aufführung von “The Shared Individual” – aufgeführt in einem Theater, indem das Publikum am Anfang VR-Headsets aufsetzt. Jeder teilt jetzt die Wahrnehmung der Performerin Emma, die von der Bühne aus das Publikum betrachtet. Das Publikum sieht sich also selbst. Emma bewegt sich und das Publikum wird gebeten, es ihr nachzutun – ein einfacher Tanz nur mit den Händen, langsam genug, um fast synchron auszusehen. Wahrnehmung und Bewegung sind also synchron. Es fehlt nur noch ein Schritt, um alle in einem Individuum zu vereinen: die emotionale Synchronisierung. Emma wendet sich weg vom Publikum, hin zu ihrem Partner, der mit großem Tamtam einen wenig überzeugenden Witz erzählt. Die Belustigung über seinen traurigen Versuch vereint das “shared Individuum” emotional.

Als Emma sich zurückdreht sind die Reihen leer. Das Publikum verschwunden. Nicht wenige Gäste kontrollierten spontan, ob sie und ihre Nachbarn noch dort waren, wo sie gerade noch nie Brillen aufsetzten.

Das beschreibt ziemlich gut, die kleinen Mind-Fucks, mit denen VR-Künstler spielen können.

Und sonst so?

Es gibt eine Sammlung mehr oder weniger absurder Games: In einem setzt man sich immer wieder neue virtuelle Masken auf, die einen in die nächste Welt beamen (leider ist man oft unerwünscht und wird von baumpilzartigen Kreaturen angeschrieben oder so…). In einem anderen „Spiel“ legt man sich hin, vrum sich von einer Guillotine hinrichten zu lassen (geht im wahren Leben ja leider nur einmal…).  In Lucid Trips kann man nicht nur die digitale Gegend erkunden (es soll zum Beispiel ein Kunstwerk von Neo Rauch eingebaut sein), sondern auch selbst eine bauen. Konrad the Kitten ist das Tamagotschi, das natürlich nicht fehlen darf. In MushMush VR wird es dann sehr psychedelisch, und in Tild Brush kann man selbst in 3D malen. Letzteres ist unterhaltsam, auch wenn bei meinen ersten Versuchen nur Gekrakel rauskam.

Mein Fazit

Ich hatte viel Spaß mit den virtuellen Realitäten auf der re:publica und wenn ich das nächste Mal an einer VR-Brille vorbei Laufe, werde ich auf den Fall wieder rein schauen. Das kleine Pappgestell, in das ich mein Telefon einlegen kann, macht noch nicht so glücklich – aber die Technik ist inzwischen gut genug, dass man sich bei der Entwicklung auf die Preissenkung konzentrieren könnte. Auch den ersten VR-Browser gibt es schon: In Janus VR „läuft“ man durch das Internet – herkömmliche Webseiten sind einfach nur große Leinwände, aber 3D-Inhalte werden direkt dargestellt. Mit dem offenen Standard WebVR dürfte das Veröffentlichen und Konsumieren leichter werden…

Ich bin sehr gespannt, was da noch so kommen wird.