Den Tag mit Erdnusskeksen und Eiskaffee auf der schattigen Terrasse verbracht und einen Text von Thomas Steinfeld über die Karikatur gelesen.* Einst die „Gegenkunst“ zur akademischen Malerei, stellte sie die Wesensmerkmale und Motivationen der Mächtigen so zugespitzte und humoristisch, bösartig oder gar entlarvend dar, dass sie deren Positionen tatsächlich angreifen konnte. Die kritische Karikatur hatte das Potenzial, selbst politische Wirkung zu entfalten. Doch solche Kritik ist nur machtvoll, wenn Autoritäten und deren Machtbereiche klar identifizierbar sind – das scheint aber kaum noch der Fall zu sein.
Ein Beispiel für die Verschleierung von Akteuren liefern Franco Moretti und Dominique Pestre in ihrem Text „Banksprech“.** Die beiden analysieren die Veränderung der Sprache in den Jahresberichten der Weltbank. Während in den Sätzen der 70er Akteure, Aktion, Aktionsort und -zeit sowie aktueller Status oder Ergebnis klar erkennbar waren, wirken die Phrasen nach 1990 wie abstrakte Kunstwerke. Die Weltbank verschlüsselt ihre Texte durch Management-Worthülsen. Wo zuvor Experten planten und umsetzten, entstehen nun Tendenzen zum effektiven Fokussieren, kontrollierten Implementieren und innovativen Kalkulieren. Aus konkreten Länderangaben werden Süd-Süd-Kooperationen. Durch die geschickte Verwendung von Nominalisierungen, dem Passiv und der englischen Verlaufsform (-ing) lässt sich sogar verschleiern, ob eine Aktion noch im Planungszustand ist, bereits läuft oder schon beendet wurde. Doch am interessantesten ist, dass auch die Akteure aus den Berichten verschwinden. Niemand ist mehr für irgendwas verantwortlich. Niemand trifft mehr eine Entscheidung. An die Stelle von Entscheidungsträgern rücken Prinzipien, die sich so universell geben, dass sie keinen Widerstand zulassen. Das erinnert an Merkels alternativlose Politik. Das erinnert an bürokratische Regeln, die unveränderlicher Wirken als unser Grundgesetz. Das erinnert an das allgegenwärtige Gefühl der Machtlosigkeit.
Keine Akteure, also auch keine Angriffsfläche mehr für Karikaturisten? Steinfeld argumentiert, dass die große Zeit der Karikaturen lang vorbei ist und sie nur gegenüber „einer scheinbar noch rückständigeren Veranstaltung“ – konkret dem Bilderverbot im Islam – noch punkten kann. Verkürzt und übertrieben dargestellt? (also von mir…) Bestimmt. Aber nicht ganz falsch, oder? Die Karikatur kann innerhalb der westlichen Macht- und Finanzstrukturen kaum noch Wirkung entfalten.
Vielleicht braucht es heute auch keine „Gegenkunst“ mehr, weil ein Teil der Kunstwelt selbst „Gegen“ ist? Hier bin ich wieder bei einem meiner Lieblingsthemen – der Surveillance Art, die ebenso wie die frühere Karikatur politische und gesellschaftliche Veränderung anstrebt und die versucht, Verborgenes aufzudecken, sich näher an die Wahrheiten heranzutasten. Doch kann sie wirkmächtiger sein als die Karikatur? Gleitet sie nicht genauso an den gesichtslosen Passiv-Entscheidungen ab? Ist ihre Nische nicht sogar noch kleiner als die der Karikatur heute, weil nur ein kleiner Teil der Gesellschaft sich überhaupt in die Nähe zeitgenössischer Kunst traut?
Vielleicht. Dem entgegen steht, dass der „Surveillance Art“ (und natürlich auch zahlreiche anderen Kunstformen mit politischem Anspruch) ein viel größeres ästhetisches Portfolio und auch mehr Aktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Künstler werden Sprachrohre von globalen, dezentralen Recherchenetzwerken. Sie suchen nach neuen Vermittlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten für abstrakte Szenarien wie die flächendeckende, computergestützte Massenüberwachung, deren Folgen für Individuum und Gesellschaft noch längst nicht ausgelotet sind. Vielleicht können sie auch unsere Ausdrucksmöglichkeiten in Bildern und Geschichten so erweitern, dass wir nicht mehr ständig über die Abstraktivität und scheinbare Lebensferne stolpern, sobald wir jemandem zu erklären versuchen, warum diese ganze Überwachungsdiskussion noch viel mehr Aufmerksamkeit braucht…
* Merkur 11/2015
** Erschienen in der gleichen Merkurausgabe wie Steinfelds Beitrag zur Karikatur